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Großelternbrief Nr. 23

Zitat: Wer weiß, wo seine Stärken liegen, kann leichter zu seinen Schwächen stehen.
Ernst Ferstl

Liebe Großeltern,
ein heute sehr erfolgreicher Schriftsteller bekam als achtjähriger von seinen Eltern zu Weihnachten eine Schreibmaschine geschenkt. Computer gab es damals noch nicht. Mal sehen, was er damit anstellt, waren Vater und Mutter gespannt. Sicher war es nicht nur diese Buchstabenmaschine, die ihn in seiner Berufswahl gelenkt hat, doch ist solcher Einfluss nicht zu unterschätzen.
Meine Enkelin ist erst sechs, aber zu Weihnachten bekommt sie eine richtige Nähmaschine, keine aus dem Spielzeugregal. Mit der ist sie nämlich schon gut drei Jahre so vertraut, dass es ihr keinen Spaß mehr macht daran zu sitzen. Unsere Enkelin ist sehr talentiert, was Basteln und Handarbeiten angeht, weshalb wir sofort zugestimmt haben, als ihre Mama die Idee mit einer richtigen Nähmaschine hatte. Investieren in die Stärken der jungen Generation lautet unsere Devise. Ich beteilige mich gern daran, obwohl ich selbst völlig untalentiert bin. Ich habe meine Nähmaschine schon lange weggegeben, denn ich kann nicht nähen, bin auf diesem Gebiet völlig unbegabt. Nichtsdestotrotz kann ich aber neidlos zusehen, wie meine Tochter und ihre Tochter nähen, stricken und knüpfen, dass es eine Freude ist. Aber die Kleine weiß: Oma kann das nicht. Das ist für sie in Ordnung und für mich kein Grund zur Verlegenheit. Weil doch jeder Mensch andere Begabungen und Stärken hat. Ich möchte keine Oma sein, die Sachen, die sie selbst nicht beherrscht, andern nicht gönnt.
Weil ich nicht nähen kann, soll keiner nähen können?
Das ist doch Quatsch und total unreif, finde ich. Weil ich nicht nähen kann, wundere ich mich, woher meine Tochter und meine Enkelin ihr Talent dazu haben. Und ich bin drauf gekommen: In meiner Herkunftsfamilie bin ich ein Exot, weil ich weder Hose noch Rock schneidern kann. In meiner Schwiegerfamilie gab und gibt es sogar ausgebildete Schneiderinnen. Und mittendrin ich, ohne jegliches Talent für Nadel und Faden. Also sind meine Tochter und meine Enkelin keine Ausnahmen, sondern passen genau zu den vorigen Generationen.
Ich bin die Ausnahme, aber nicht das schwarze Schaf.
Ich fühle mich schon lange nicht mehr bemüßigt, wenigstens den Schein zu wahren und guten Willen zu zeigen, wenn es um Nähmaschinen geht. Ich winke ab und wende mich den Dingen zu, die ich gut kann. Mit dieser Haltung habe ich es inzwischen sogar zu familiärer Akzeptanz gebracht. Jeder, wie er kann, lautet unser Motto. Ich freue mich sehr darüber, dass meine Enkelin schon so früh Talent zum Nähen zeigt und werde es fördern, wo es geht. Ohne Neid und Gehässigkeit, ohne Sorge, mir bräche ein Zacken aus der großmütterlichen Krone, wenn die Enkel eine Unvollkommenheit an mir finden, etwas, das ich nicht perfekt oder gar nicht beherrsche. Nein, seitdem mir bewusst geworden ist, wie viel leichter es sich lebt, wenn man zu seinen Schwächen steht, wundere ich mich, dass ich nicht schon viel früher den Mut dazu gefunden habe.
Einen entspannten Umgang mit Ihren Enkeln wünscht Ihnen
Marianne Kopp